Leichter Druck in den Ohren und sehr gedämpfte, ferne Geräusche erinnern mich an die Ohropax die ich mir in der Nacht reingedreht hatte. Umständlich fummle ich die Dinger wieder heraus. Um mich herum sind offenbar alle schon wach und unterwegs. Bis auf zwei Franzosen. Aber die sind ebenfalls im Begriff zu gehen. Fasziniert starre ich auf die zerknautschten Leisemacher in meiner Hand. "Warum hab ich die nicht schon früher mal ausprobiert?" murmle ich, lächle über diese weitere neue Erfahrung und strample mich aus meinem Schlafsack. Jetzt aber ein bisschen Tempo! Selbst die trinkfreudigen Spanier sind offenbar schon wieder auf den Beinen. Rein in die Klamotten, Schlafsack verstaut und los. Als ich den Schlafsaal verlasse und in den sich davor befindlichen Gemeinschaftsraum trete, bin ich augenblicklich entspannt. Sarah sitzt fröhlich lachend mit zwei weiteren Mädels am Tisch und scheint überhaupt keine Eile zu haben. Linda, ebenfalls Deutsche -freut mich- und Josefien aus den Niederlanden. Holländer mag ich ganz besonders. Wie wohl jeder Fußball-Interessierte meiner Heimat. Irgendwie erleichtert darüber, dass ich doch nicht der letzte Pilger im Kloster bin, setze ich meinen Rucksack auf einen der Stühle ab und hole mir einen, hier im Kloster gratis bereitgestellten, Instant-Kaffee. Pfui. Aber immer noch besser als gar kein Kaffee. Josefien interessiert sich überhaupt nicht für Fußball und so freunden wir uns schnell an. Dafür spricht sie perfekt Englisch (Linda übrigens auch) und interessiert sich sehr für Kunst. Das Guggenheim-Museum in Bilbao ist erklärtermaßen ein "Muss" auf ihrem Weg. Nachdem wir in aller Ruhe gefrühstückt - insofern man bei eingeschweißten Milchbrötchen und Instantkaffee von Frühstück sprechen mag - haben, machen wir uns auf den Weg. Kurze Absprache und das Ziel für heute lautet einstimmig: Gernika. Es gefällt mir, dass alle meiner Meinung sind, stelle ich in mich hinein feixend fest und wir gehen zu viert auf die Etappe.
Meine wunde Ferse ist beim Gehen lästig und insgesamt fühlt sich mein Körper geschunden an. Die Waden zwicken, die Schultern schmerzen, die Oberschenkel brennen und die Füße tun auch einfach nur weh. "Everything hurts," mache ich mir Luft und bereue diese Offenbarung kaum, dass ich sie ausspreche. Es kommt, was kommen musste, wenn man sich als Mann in Gesellschaft dreier junger Frauen eine solche Blöße gibt. Abgesehen von einstimmigem "ooooooohhhhh - poor Boooy" und überzogen mitleidigen Blicken ist das jetzt DIE Gelegenheit für Sarah einmal so richtig über mich und meine 20 Kilo Gepäck zu lästern. Und wie! Prustend, mit Tränen in den Augen vor Lachen, listet sie haarklein jedes einzelne Stück meiner Ausrüstung auf, das ihr überflüssig scheint. Fast alle Teile mit einem gedehnten, ironischen Zusatz "veeerry usefull!" Das Stück, das mir jetzt am meisten Häme einbringt, ist mein "Pacsafe." Ein ca. 600 Gramm wiegendes Netz aus Stahlkabeln mit Nummernschloß . Der kompetent wirkende Verkäufer bei Globetrotter hatte es mir für die Situationen empfohlen, in denen mein wertvolles Gepäck in der spanischen Wildnis, oder alternativ auch im Großstadtdschungel, unbeaufsichtigt bleibt. Hätte ich doch bloß nie davon erzählt. Aber: "Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!" sage ich mir zerknirscht und bin für die nächsten Kilometer bereitwillig Gegenstand sämtlichen Amüsements. Abwechselnd werde ich gefragt ob ich noch könne, ob sie mir den Rucksack tragen sollen, oder ob ich nicht doch ein Taxi bräuchte. Frauen können grausam sein - ganz besonders dann, wenn sie Oberwasser haben, in der Überzahl sind und zu allem Überfluss auch noch Recht haben. Während wir - bzw. eigentlich nur noch die drei Damen - jetzt also bestens gelaunt den Berg hinauf über uralt gepflasterte Pilgerpfade wandern, habe ich vielfache Last. Der anstrengende Anstieg, die schmerzenden Gliedmaßen, der immer schwerer werdende Rucksack und der nicht endende Spott meiner Gefährtinnen. Ich trage es wie ein Mann und wir erreichen nach etwa sieben quälenden Kilometern ein weiteres Kloster. Zeit für eine - zumindest für mich - dringend nötige Rast. Wir setzen uns auf die alten Steinstufen und ich nutze die Gelegenheit für eine ausgiebige Massage meiner Waden. Reine Vorsicht. Während wir so rasten ziehen einige andere Pilger an uns vorbei. Viele hat man inzwischen schon mal irgendwo gesehen. Auch sie mit dem roten Rucksack ist wieder dabei. Und die kurzhaarige Amerikanerin. Aber die scheint hier übernachtet zu haben. Kann man hier im Kloster Zenarruza nämlich auch, lese ich im Reiseführer. Nach ausgedehnter Pause geht es weiter. Bergauf. Irgendwann haben wir etwa 300 Höhenmeter hinter uns gebracht und den für heute höchsten Punkt der Etappe erreicht.
Es geht nun teilweise steil bergab und jeder Schritt drückt das gesamte eigene Gewicht sowie 20 Kilo meines VERDAMMT NÜTZLICHEN GEPÄCKS! in die Schuhspitze. Genauso gut hätte man mir Zahnstocher unter die Zehennägel rammen können. Jetzt tut es WIRKLICH weh. Aber ich werde keinen Ton sagen. Im Gegenteil. Gute Laune gegen die Schmerzen. Aus unerklärlichen Gründen muss ich immer wieder an die Flagellanten denken. Und irgendwie empfinde ich eine merkwürdige, spirituelle Befriedigung. Vielleicht bin ich jetzt ein echter Pilger. Vielleicht muss dieser Schmerz sein. Innerlich erlebe ich einen Initiationsritus. Der Schmerz macht mich stolz. Davon erzähle ich natürlich nicht. Das bleibt mein Geheimnis. Nicht nochmal zum Gespött werden. Allerdings sind auch die Mädels auffällig ruhig. An einem besonders steilen Teilstück läuft plötzlich Linda an mir vorbei und ruft: "Rennen!" - "Du musst rennen!" Irritiert sehe ich ihr nach. Klar. Spinnt die jetzt völlig? Ich kann kaum noch einen Schritt machen - da werde ich ganz sicher nicht auch noch rennen. Während ich halb fragend, halb belustigt der bergab rennenden Linda hinterher starre, rennen Josefien und Sarah ebenfalls lachend an mir vorbei. "Was zur Hölle...?" rufe ich und ... renne los.
Die ersten Schritte suche ich meine Balance. Aber dann - ich kann es nicht glauben - renne ich. Rennen wir. Wie Idioten. Es muss so unfassbar lächerlich aussehen, wie wir rucksackbepackten, von Seite zu Seite schlingernden Pilgerlein den Berg hinunter rennen. Aber es funktioniert. Durch die beim Aufkommen deutlich verkürzte Berührungszeit der Füße mit dem Asphalt sind die Schmerzen erträglicher. Schnell verbessere ich meine Technik und renne nur noch auf den Hacken den Berg hinunter. Vermutlich sehe ich jetzt endgültig aus wie ein Clown mit Schuhgröße 84. Kein Raum für Eitelkeiten. Meine Zehen sind nun fast komplett entlastet und rennend kommen wir schnell vorwärts. Bergauf vornüber beugen und die Schienbeine in die Stiefel drücken, bergab rennen. So geht es. Wir rasten noch einige Male. Mal auf einem Holzstoß, mal einen kurzen Schauer abwartend unter dem Vordach eines Hauseinganges. Etwas weiter treffen wir mal wieder auf einen Hund. Ein Hündchen. Gerade mache ich noch ein Foto dieses niedlichen kleinen Wesens mitten auf der Straße, da fletscht das Tier unvermittelt die Zähne und tobt wie von Sinnen bellend immer von einer Straßenseite zur anderen. Wir sind wirklich irritiert. So klein dieser Hund auch ist, keiner von uns möchte es mit ihm aufnehmen. "Duuu - kommst nicht - vorbei!" Ich nenne ihn Gandalf. Es nützt nichts - wir müssen irgendwie weiter. Mein Gedächtnis erinnert mich daran, dass Trekking-Stöcke auch zur Verteidigung gegen Wildtiere nützlich sein können. Genau! Verteidigung gegen Wildtiere. Jetzt - das ist der Moment, in dem aus dem verspotteten Schwächling ein Held in schillernder Rüstung wird. Metamorphose! Adrenalin strömt durch meinen Körper. Entschlossen zücke ich meinen Trekkingstock und gehe, der Angst trotzend, Schritt für Schritt langsam auf die Bestie zu. Es weicht zurück. Mitten auf der Straße stehend halte ich das Biest mit dem Stock auf Abstand während sich in meinem Rücken drei Prinzessinnen sicher zur anderen Seite retten. Geschafft. Etwa hundert Meter gehe ich noch rückwärts, weil der Hund einfach nicht aufgibt. Dann aber bleibt er zurück und setzt sich - die Niederlage anerkennend - wieder mitten auf die Straße. Fast so, als wüsste er, dass weitere Pilger folgen würden.
Wir überwinden die restlichen An- und Abstiege mit den neu entdeckten Lauftechniken und kommen irgendwann in Gernika an. Josefien verlässt uns und fährt mit der Bahn weiter nach Bilbao. Ich philosophiere innerlich über den Sinn des Pilgerns, wenn man dann doch Bus oder gar Bahn nimmt. Für mich käme das nicht in Frage. Der Jakobsweg MUSS zu Fuß begangen werden. Mit Schmerzen. Flagellantisch. Jawohl. Während ich so vor mich hin sinniere erzählt Sarah aufgeregt von einer spanischen Spezialität in dieser Region die wir heute unbedingt essen müssen. Irgendwas mit Bohnen. Inständig hoffe ich, dass wir entweder dieses Gericht nicht essen oder falls doch, zumindest nicht alle in einem Raum schlafen werden. Der Reiseführer empfiehlt als Unterkunft die Pension "Cerveceria Gernika". Wir einigen uns darauf in dieser zu übernachten und nach einem kurzen Stopp an der Touristen-Information machen wir uns auf direktem Weg dahin. Dachten wir. Irgendwie irren wir aber doch nur die Fußgängerzone rauf und runter ohne die besagte Pension zu finden. Und dann folgt eine weitere Erkenntnis. Sarah fragt in höflichstem Spanisch nach der Cerveceria und bekommt aufmunternde Hinweise auf so ziemlich alle gastronomischen Einrichtungen in sichtbarer Nähe. Cerveceria scheint nämlich für den Spanier einfach ein Ort zu sein, wo man ein cerveza - ein Bier - trinken kann. Und davon hat es hier in der Innenstadt wahrlich genug. Ratlos drehen wir uns im Kreis um dann lachend zu entdecken, dass wir unmittelbar vor der Pension stehen. Mitten zwischen blauen Beachflags mit gelben Jakobsmuscheln. Inzwischen sind wir ganz offensichtlich betriebsblind geworden. Nachdem es angeblich keine Betten mehr gibt und wir etwas ratlos in der Cerveceria herumstehen, deutet uns dann die mürrische, aber sehr attraktive Dame hinterm Tresen an ihr zu folgen. Einige Gebäude weiter schließt sie uns oben in einem alten Stadthaus ein Zimmer auf. Nur für uns drei. Mit zwei einfachen, aber sauberen Bädern auf dem Gang. Damit ist der Pilger doch zufrieden. Wir machen uns frisch und ziehen nochmal los durch die immer belebter werdende Innenstadt.
In einer Bar, in der sich augenscheinlich die Besserverdienenden der Stadt einfinden, nehmen wir einen Drink. Und ich erlebe das erste Mal in meinem Leben, wie es sich anfühlt, von allen Anwesenden abschätzig angeschaut zu werden. Tatsächlich. Jack Wolfskin, The North Face & Co. verirren sich offensichtlich nicht allzu oft hier in das Revier von Prada, Gucci und Burberry. Pilger sind hier nicht willkommen. Da mir solche Gesellschaft aber nicht fremd ist, finde ich beinah Gefallen daran, hier zu stören und spendiere "meinen" Mädels noch Cocktails. Wir setzen uns eine Weile fest. Irgendwann werden einige betrunkene Männer doch zu aufdringlich und wir hungrig. Sarah erfährt auf Nachfrage, dass es um die Ecke einen Laden gibt, der berühmt sei für dieses "Irgendwas mit Bohnen". Dort angekommen erklärt man uns dann aber, dass es die Bohnen erst irgendwann spät Abends gäbe. Wir essen Tapas und gehen zurück zur Cerveceria. Auf ein letztes Bier. Sarah lässt nicht locker und fragt auch hier nochmal nach diesem berühmten "Irgendwas mit Bohnen." Die mürrische Dame gibt uns zwar die Karte, versteht aber nicht was Sarah will und holt irgendwann den Koch. Dieser versteht offenbar sofort was Sarah meint und dann kommt Leben in die Bude. Wieselflink wird unser Tisch eingedeckt. Hübsche karierte, ans Oktoberfest erinnernde Deckchen, eine Karaffe Wasser, große Gläser, riesen Teller, schwere Löffel und ein Korb voll frischem Brot. Die anwesenden Spanier schauen dem Spektakel aufmerksam zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit die wir wartend und Brot essend an unserem Tisch sitzen bringt der Koch höchst persönlich einen riesigen, dampfenden Topf "Alubias" wie er stolz verkündet. Irgendwas mit Alubias. Wir wissen immer noch nicht genau wie das Gericht nun heißt, aber es duftet köstlich. Einen letzten Gedanken verschwende ich noch an den kleinen Raum, in dem wir drei heute Nacht schlafen werden und gebe mich dem Genuss hin. Wir schlemmen. Egal was ich vorher gedacht oder gesagt habe: Dieses Gericht ist deliziös. Wir essen den gesamten Inhalt des riesigen Topfes und wischen selbst den Rest noch mit dem verbliebenen Brot aus. Angetrunken und zum Zerbersten satt schleppen wir uns glücklich in die Betten. Gute Nacht.
2 Comments
“Irgendwas mit Alubias… es duftet köstlich”. – Fabada heisst es. 🙂
ganz genau! 🙂 Danke… dann kann ja jetzt der aufmerksame Leser gleich mit seinem “Fachwissen” glänzen und dieses leckere Gericht sofort richtig bestellen! 😉