parallax background

Prinzipien adé – Tag 6 auf dem Jakobsweg Küstenweg

Für Dich: Wandkalender 2017 – Bilder und Worte zum Jakobsweg Küstenweg
14. Dezember 2016
Bergab = Rennen – Tag 5 auf dem Jakobsweg Küstenweg
15. Dezember 2016
 

Heute bin ich als erster Pilger wach. Keine Kunst, wenn nur zwei erklärte Langschläfer als Konkurrenten antreten - aber ich fühle mich dennoch leicht heldenhaft.

So leise wie nur möglich versuche ich - zu spät. Sarah blinzelt mich an. "Good morning" lächelt sie. Sie lächelt immer. Irgendwie ist das wirklich schön. Mit zerstörten Haaren setzt sie sich auf. Während ich jetzt mit etwas weniger Rücksicht meine Sachen aus dem Rucksack zerre, frage ich mich, ob irgendwann der Moment kommt, an dem Sarah nicht mehr lächelt. Nicht, dass ich mir das wünsche - mir fällt nur einfach grad auf, dass sie weder Morgenmuffel, Wandermuffel, Wettermuffel, Verlaufenmuffel, Müdemuffel, Schmecktnichtmuffel noch sonst ein Muffel ist. Nun gut - ich selbst bin sicher kein Stinkstiefel, aber es gibt doch einiges was mir immer mal wieder gehörig auf die Nerven geht. Und ich glaube, meistens merkt man mir das auch an. Jetzt allerdings geht mir grad nichts auf die Nerven und ich wende mich zur Tür um als erster eines der Bäder zu besetzen. Im Hinausgehen werfe ich einen Blick zu Linda. Sie scheint komplett in den Schlafsack gekrochen zu sein. Außer einer kleinen blonden Strähne ist von ihr nichts zu sehen. Ich grinse und verschwinde in den Flur.

Als ich zurückkehre sind meine Mädels bereits beide am packen. Sauber - ich hab mal wieder am längsten gebraucht. Dafür packe ich schneller! Wie vereinbart lassen wir die Schlüssel im Schlafzimmer stecken und einfach die schwere Tür zur Fußgängerzone hinter uns zufallen. Jetzt erstmal Frühstück. Primär heißt das Kaffee für mich. Natürlich hat wieder einmal wenig bis nichts geöffnet. Ein kleiner Supermercado. Der hat aber keinen Kaffee. Sarah deckt sich mit Obst ein, Linda kauft auch irgendwas. Ich will Kaffee. Jetzt! Wir schauen in die eine Richtung, dann in die andere und entscheiden gemeinsam einfach den Pfeilen des Jakobsweges folgend wohl irgendwo hier in Gernika ein Café oder einen Bäcker zu finden. Kurz bevor uns der Reiseführer die Treppen zur Kirche hinauf schickt, entdecke ich rechter Hand in einem Säulengang ein Cafè. Also Rucksäcke wieder runter. Etwas ungemütlich sitzen wir kurz im Schatten an der ziemlich befahrenen Straße und ziehen ob der wenig zum Verweilen einladenden Atmosphäre schnell weiter. Ziemlich viele Treppen geht es nun hinauf zur Kirche und in einen gusseisern umzäunten Park mit wirklich beeindruckenden großen Bäumen und einigen Skulpturen. Während wir so durch den Park schlendern lese ich noch etwas über Gernika im Reiseführer. Und bereue ein wenig, hier nicht etwas mehr Zeit zu verbringen. Immerhin ist es 10 Jahre lang die Heimat Michael Kaspers gewesen. Kasper ist ursprünglicher Verfasser des Outdoor Reiseführers und derjenige, der mir bereits mit seiner "Kasperroute" einige echte Höhepunkte auf dem bisherigen Jakobsweg Küstenweg ermöglicht hat. Ausserdem hat Gernika eine Geschichte mit unrühmlicher deutscher Beteiligung, die unter anderem Pablo Picasso zu seinem berühmten Gemälde "Guernica" inspirierte. Während ich noch lese, laufen wir am anderen Ende des Parks wieder an den Zaun. Auf der anderen Seite ist an einer Hauswand eine gelbe Muschel die uns den Weg zeigt. Blöd nur, dass wir auf der falschen Seite des Zaunes stehen. Wir schauen nach einer Öffnung. Nicht allzu weit entfernt ist eine Pforte und die ist - verschlossen. Sonst ist keine zu sehen. Zum Klettern ist uns der Zaun zu hoch - und wir wollen hier auch nicht unangenehm auffallen. Also zurück und außen um den Park herum wieder auf den markierten Weg.

 
Es geht mal wieder steil bergan. Sehr steil. In mir reift der Gedanke mich ggf. doch bei nächster Gelegenheit von etwas Gepäck zu trennen. Immerhin besteht die klitzekleine Chance, dass ich nicht ALLES brauchen werde, was ich so mit mir herum trage.

Was genau ich nicht brauche, entscheide ich aber erst, wenn ich in einer Post stehe und der Moment des Abschieds kommt. Meine Füße schmerzen. Ich hatte schon heute früh bemerkt, dass sie irgendwie geschwollen und unnatürlich gerötet sind. Inständig hoffe ich, dass sich das irgendwie raus läuft. Der Weg ist trotzdem schön. Zwar keine Küste, aber unendlich viel weites Land. Berge soweit das Auge reicht. Und das Wetter ist perfekt. Weiße Wolkentupfer vor strahlend blauem Himmel. Linda hat nur zwei Wochen Urlaub und wird nicht den ganzen weg gehen. Sie surft. Reist viel und gern. Entspannt. Ich mag sie sehr. Zusammen lachen wir heut viel und es fühlt sich frei und leicht an. Ein toller Wandertag. Wir philosophieren über Sinn und Unsinn von Trekkingstöcken. Linda hat ihre geschenkt bekommen. Sarah hat auch Geschenke von mir. Mein Totenkopf-Halstuch gleich zu Beginn auf dem Berg Jaizkibel und ein Inlay für den Schlafsack. Nachts ist mir warm genug. Ich heize selbst. Unsere Laune ist ungetrübt. So ungetrübt, dass wir uns über musikalische Vorlieben unterhalten. Und über landestypische Musik. Ein Fehler. Sarah möchte jetzt nämlich wissen, was Ssshlaähger und "typical german music" ist und überredet mich zu singen. Ich wähle "Muss i denn zum Städtele hinaus", weil ich ihr vorher noch erzähle, dass auch Elvis diesen Titel schon sang und ich hoffe, dass damit ihrer Neugier genüge getan ist. Dumme Idee. Die Elvis-Version ist vermutlich nur für uns Deutsche ne große Nummer. Sarah kennt sie nicht und ich muss noch was anderes singen. Was tun? Heino? "Ja, ja so blau, blau, blau blüht der Enzian" Sarah lernt schnell. Wir singen zusammen. Natürlich hört das jetzt nicht mehr auf. Bei Helene Fischer wird es Linda endlich zu viel und sie macht meinem Leid ein Ende, indem sie irgendwas von Bus fahren erzählt. Bus fahren?? Bestimmt nicht. Ich protestiere - zähle die Kilometer und erkläre, dass wir ja wohl ohne weiteres bis Bilbao laufen können. Das Höhenprofil des Monte Avril ist allerdings ein echter Argumente-Tod. Linda will heute partout nicht mehr über diesen Berg. Wir sind inzwischen an Eskerika vorbei und ich hoffe sehr, dass die folgenden Abstiege Linda milde stimmen. Insgeheim ärgere ich mich, dass mir Lindas Idee nicht einfach egal ist. Warum diskutiere ich? Lass sie doch Bus fahren. Ich versuche irgendwas im Reiseführer zu finden, was so sehenswert ist, dass der Busfahrplan verworfen wird. Gemeinschaftlich. Außer einer niedlichen Geschichte zum pilgerfreundlichen Hund "Lolita" in der bereits passierten Herberge finde ich allerdings nichts. Es gibt hier zwei Wegalternativen. Die alte Kasperroute - kaum noch markiert und deutlich schwieriger - und den offiziellen Jakobsweg. Ich mache das großzügige Angebot den einfacheren Weg bergab zu wählen und hoffe immer noch, dass das den Bus aus den Gedanken verjagt. Sarah ist leider inzwischen auch "busifiziert" und ich sehe meine Chancen schwinden. Zwischendrin treffen wir ein weiteres mal auf die mit dem roten Rucksack. Sie sitzt allein am Wegrand und freut sich wieder sehr uns zu sehen. Jedesmal wenn wir sie treffen, fällt mir ihre unheimlich herzliche und ehrliche Freude auf. Ich lächle in mich hinein und freue mich über ihre Freude. Wir setzen uns eine Weile zu ihr und schlachten gemeinsam Sarahs Mandarinen. Dabei stellen wir fest, dass wir drei Deutsche sind. Irgendwie lustig. Wenn sich alle auf englisch unterhalten, kann einem so etwas mal ne Weile verborgen bleiben. Als wir weiter wollen, bleibt sie mit dem roten Rucksack noch sitzen. Gedanklich beschäftige ich mich jetzt schon einmal damit den Monte Avril heute allein zu überwinden und vermutlich erst spät in Bilbao an zu kommen. Diese Vorstellung gefällt mir nicht. Ich hab Schmerzen. Ich will auf 'n Arm. Mama. Aber ich will auch nach Bilbao laufen. Während Linda emsig nach der nächsten möglichen Busverbindung sucht und Sarah Ssshlaähger übt, versuche ich nochmal zu verhandeln: "Erstmal bis Lezema und dann weiter sehen?" Keine Chance. Linda will einfach nicht mehr.

Wir erreichen Larrabetzu und machen in der kleinen Taberna Irusta Pause. Alte Balken, gekachelter Thresen, Erdnussschalen und zerknüllte Servietten auf dem Boden. Mürrischer Barkeeper. Vor der Tür zwei stämmige, glatzköpfige Jungs. Sie bieten uns an unser Gepäck nach Bilbao zu fahren. Irgendwie hänge ich aber wirklich noch an meinem Besitz und lehne ab. Die Mädels sind auch nicht überzeugt. Wir bestellen Kaffee. 2 x con leche. Americano für mich. An den Wänden hängen und stehen jede Menge Bilder und Malereien. Linksrevolutionäre Aura. Linda sitzt apathisch an der Bar und starrt die Wand an. Irgendwie fasziniert mich die Szene und ich mache Fotos. Eines gefällt mir ganz besonders. Eine Weile lasse ich es auf mich wirken. Wir setzen uns vor der Bar auf die Stufen. Die schweren Jungs unterhalten sich mit den Mädels. Ich finde nicht statt. Nicht das mich das stören würde. Ich hänge meinen Gedanken nach und höre mit einem Ohr, dass das Getränk, welches die Jungs hier in der Sonne trinken im Grunde Wodka-O ist. Joa. Wer Wodka-O am Nachmittag trinkt, eignet sich bestens als Taxi-Fahrer. Bin grad ganz froh, dass wir alle abgelehnt haben. Nachdem die Frage des Getränks geklärt war, eröffnet uns Linda, dass sie von hier nun mit dem Bus nach Bilbao fahren wird. Sie schwingt ihren Rucksack auf die Schultern und ich sehe endgültig ein, dass sie es ernst meint. Sarah macht Anstalten es ihr gleich zu tun. Verdammt. Ich will nicht, dass die beiden mit dem Bus fahren. ICH will nicht Bus fahren. Auf gar keinen Fall. So pilgert man nicht. Das ist falsch. Selbstbetrug. Schwach. Den Jakobsweg pilgern heißt zu Fuß gehen - bis nach Santiago. Eher auf Knien als mit dem Bus. "Wieso zerreißt mich das gerade so?"frage ich in mich hinein. "Wieso gehe ich nicht einfach allein weiter?" Ich will irgendwie heute nicht allein weiter. Und ich habe Schmerzen. Ich will eigentlich auch Bus fahren. Aber ich erlaube mir nicht das zu wollen. So hab ich mir das nicht vorgestellt. So gehört sich das nicht. Man pilgert nicht mit dem Bus. Seufzend nehme ich meinen Rucksack und trotte den Mädels hinterher. Als gebrochener Mann. Ohne Rückrat. Ohne Willen. Ohne Prinzipien. Das wars.

„Das schönste an Wanderplänen ist, dass man sie umstoßen kann. Niemals sich binden. Wandern ist kein zielbewußtes Reisen. Wandern ist Laune, Willkür, Erleuchtung des Augenblicks, heute hier, morgen dort, starre Wanderpläne sind Sünde gegen den heiligen Geist.“ J.Hofmiller

 

Auf der Fahrt nach Bilbao möchte ich heulen. Ich starre schweigend auf mein Busticket. Beleg der Schande. Baaah, wie ich mich verabscheue. Vor Antritt der Reise zum Jakobsweg Küstenweg hatte ich mir klare Ziele gesetzt. Und ich hatte Vorsätze. Regeln. Wie es immer ist und ich es immer tue. Und daran halte ich mich. Was zum Geier geht hier vor. Und wieso bin ich so erleichtert? Ich will nicht erleichtert sein. Ich will mich ärgern. Fühlt es sich vielleicht deshalb leicht an, weil ich einfach mal nicht das tue, was ich mir selbst vorgeschrieben habe? Weil ich mal eigene Regeln breche? Einfach mal Bus fahre, obwohl ein Pilger nicht Bus zu fahren hat? Albern. Schwachsinn. Aber vielleicht ist es das... vielleicht lerne ich gerade mich von "das macht man so" und "das muss so sein" zu verabschieden. Die Mädels haben die Schuhe ausgezogen und sind bester Laune. Sie machen Pläne für den Abend in Bilbao. Und sind glücklich. Ich will auch glücklich sein. Und beschließe, von jetzt an jeden der am Jakobsweg Bus fährt zu mögen. Auch mich. Auf Nimmer-Wiedersehen Zwang. Friede! Danke Linda. Danke Sarah. Danke Bus.
Der Busfahrer fährt uns vorbei an teils beeindruckenden Bauwerken - historisch und modern - bis mitten nach Bilbao hinein und lässt uns direkt vor der Touristeninformation raus. Inzwischen bin ich total gelassen. Die Sonne scheint, die Straßen sind voller Menschen und wir haben einen ganzen Abend in dieser pulsierenden Stadt vor uns. Vor einer Woche ging genau hier alles los. Nun bin ich wieder hier. Zu Fuß. Naja - fast. Ich grinse. 6 Tage und der Jakobsweg hat mich von etwas gelöst, das sicher nicht schlimm, aber oft hemmend ist: Prinzipien! Adé!

In der Touristeninformation holen wir uns noch einige Informationen zu interessanten Stadtteilen für das Abendprogramm und machen uns dann auf den Weg in ein Hostel, das Linda bereits gebucht hatte. Die Leute hier in Bilbao sind ganz offensichtlich Pilger gewohnt. Zumindest nimmt keiner sonderlich Notiz von uns. Das Hostel ist leicht gefunden, wir bekommen einen Raum für uns und machen uns frisch für den Abend. Hunger! Und auch Lust auf etwas Bilbao-Feeling. Unweit des Hostels setzen wir uns in ein Café an einem kleinen Platz und genießen die Drinks und das Treiben. Jemand singt. Kinder spielen und tollen herum. Die Stimmung scheint ausgelassen. Spanier sind laut. Mir gefällt das. Ein bisschen ist das jetzt wie Urlaub. Wir essen heute Burger. Riesige Burger. Geiles Zeug. Satt und zufrieden schlendern wir noch durch die Gassen. Wir kaufen Eis und schauen in Geschäfte. Angekommen an einem großen, menschenleeren Platz wollen die Mädels tanzen. Ich nicht. Oder doch? Zu spät - die beiden tanzen jetzt ohne mich. Ich mache Bilder. Schön ist es. Alles ist gut. Glücklich, satt und müde gehen wir spät zurück ins Hostel und sofort in die Betten. Schöner Tag. Gute Nacht.

 

Neugierig was vorher war?

Tag 5 Bergab = Rennen
 

Weiter gehen!

Tag 7 Post in Bilbao

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert