Dieses Geräusch finde ich schon dann nicht toll, wenn ich daheim den Müllbeutel austausche... Jetzt aber raus hier. Mühsam, wie bislang jeden Morgen stopfe ich meinen Schlafsack in den Überzug. Und ärgere mich. Die ersten Male war ich noch überzeugt, mich nur an das Schlafsack-Stopfen gewöhnen zu müssen - aber inzwischen bin ich mir sicher: der Überzug ist zu klein! "Vielleicht liegt es auch an meiner Technik", gestehe ich mir ein und überlege, was ich anders machen könnte. Wie immer in den letzten Tagen klappt es auch diesmal mit Gewalt. Aber da muss ich dringend etwas verbessern. Ganz wunderbar funktioniert allerdings mein Microfaser-Reisehandtuch. Einfach Abends nach dem Gebrauch über eine Leine oder ein Bettgestell hängen und am nächsten Tag trocken wieder einrollen. Das klappt bisher prima. Zusammen mit Sarah verlasse ich den Bahnhof. Schnell noch einen Kaffee Americano und ein Stück Tortilla im Café gegenüber und los geht es. Wie fast immer bisher zählen wir zu den Letzten, die sich auf den Weg machen.
Am Ende des Ortes geht es steil bergan. So steil, dass ich nach wenigen Minuten vollkommen durchgeschwitzt bin. Es wird schnell wärmer und mein Rucksack zerrt bei jedem Schritt an meinen Schultern. Laufend rinnt mir salziger Schweiß in die Augen. Ich senke den Kopf und beschleunige meine Schritte. "Du Berg schaffst mich nicht!" presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und freue mich ab jetzt über jeden Tropfen den ich mit gesenktem Kopf vor mir auf den Boden tropfen sehe. Ich drehe mich um und bemerke, dass Sarah schon deutlich zurück geblieben ist. Warten? Nein. Ich brauche jetzt einen persönlichen Triumph gegen den Berg. Jeder anstrengende Schritt spornt mich jetzt zu noch mehr Geschwindigkeit an. Es geht immer weiter bergauf. In weit gezogenen, asphaltierten Serpentinen durch bewaldete steile Anstiege. Einen Pilger nach dem Anderen lasse ich heute hinter mir. Laufen wie im Rausch. Der Kopf ist leer. Ich spüre nur noch meinen Puls, das Brennen in den Muskeln und meinen Atem. Nach einem besonders steilen Stück laufe ich oben am Berg auf einen ebenfalls keuchenden Pilger auf. Er ruft mir zu: "Animo!" Was auch immer das heißt. Wir lachen uns an, klatschen ab und ich laufe weiter. Mit einem Mal wird es gleißend hell... ich trete aus dem Wald in ein Areal aus gerodeten Hängen... so weit das Auge reicht Berge. Ich halte.
Auf einmal verspüre ich quälenden Durst. An einer Gabelung finde ich einen umgelegten Baumstamm und setze mich. Was für eine Wohltat. Nach einiger Zeit kommt "Animo" wieder vorbei. So heißt er jetzt, beschließe ich. Für die nächsten Pilger, die aufschließen, räume ich meine angewärmte Sitzbank und mache wieder Meter. Es fühlt sich an, als wenn ich mit jedem Schritt neue Energie gewinne. Laufen im Genuss-Modus. Immer noch sehr zügig, aber die Höhenunterschiede sind hier merklich weniger und ich bin allein mit mir und der Natur. Ich denke an meinen Großvater während ich durch die Landschaft wandere. Als kleiner Junge ging ich so gern mit ihm durch die heimischen Wälder. Er lehrte mich die Bäume und Vögel zu unterscheiden und benennen. Wie gerne würde ich jetzt mit ihm hier über diese Pfade gehen. Gemeinsam -als Männer. Ich schaue in den Himmel und für einen kurzen Moment will ich glauben, dass er mich hier sieht. Träumend und in Erinnerungen versunken wandere ich weiter.
Seit einer Weile ist mein Wasservorrat aufgebraucht. Der Reiseführer zeigt eine Wasserstelle unweit meiner geschätzten Position. Und tatsächlich ich finde sie. Der Abenteurer in mir freut sich auf dieses Wasser, das hier einfach aus einem Schlauch am Straßenrand läuft. Und ich trinke mutig. Mutwasser. Ha! Doppelt erfrischend. Weiter. Nach einiger Zeit über Bergkämme und Waldpfade sehe ich in einiger Entfernung vor mir eine Pilgerin. Eindeutig. Was für eine ansprechende Rückansicht. Unvermittelt pfeife ich. Leise. Sie ist weit genug weg. Aber jetzt will ich wissen, ob vorne hält, was hinten verspricht. So ein knallroter Rucksack ist halt ein Blickfang. Also noch 'n Schritt schneller. Ein par Meter bevor ich sie erreiche, gehe ich langsamer um nicht zu schnaufen, wenn ich gleich sportlich überhole. Meine klassische Erziehung zwingt mich zu höflicher Distanz und ich lächle einfach nur im Vorbeigehen. Aufdringlich bin ich einfach nicht. "Hello" - weiß ich denn welche Sprache sie spricht?! Gefällt mir. Und noch einmal neue Energie. Jetzt trete ich extra richtig an. Wie ein Stier der rot sieht. Wir sind ja hier in Spanien. Ob wir zur gleichen Herberge gehen? "Werde ich ja merken", denke ich und ziehe davon. Der Weg bleibt schön. Das Wetter spielt mit. Ich bin glücklich. Die Stunden verfliegen während die Landschaft an mir vorbeizieht. Oder ich an der Landschaft. Die Kräfte schwinden. Schon wieder sitze ich am Straßenrand. Irgendwie ist das jetzt mehrmals passiert auf den letzten Kilometern. Wahnsinn - so vollkommen ausgepowert fühle ich mich wirklich, als hätte ich was geschafft. Allzu weit dürfte es jetzt auch nicht mehr sein. Wie es wohl Sarah geht?
Wieder einen Anstieg später tut sich zwischen Bäumen ein wahrlich idyllischer Blick in grüne Täler auf. Und erneut sitze ich. Den Rucksack habe ich abgesetzt und lehne mich an ihn auf der Steinmauer am Wegesrand. Wie entspannend. So träume ich vor mich hin und denke nach über die letzten Tage. Über 800 Kilometer hab ich mir vorgenommen - verrückt. Aufregend. Aber heute ist besonders schön. So allein. Vollkommen unbeeinflusst. Die Minuten verrinnen. Und da ist sie mit dem roten Rucksack wieder. Nicht allein. Sie lächelt. Diese Pause werde ich also ziehen müssen überlege ich. Sonst wird's ein wenig kitschig. Guter Vorsatz. Hält nicht allzu lang. Am nächsten Berg haben die beiden offenbar gerastet. Sehen etwas angestrengt aus. "Are you ok?" frage ich. "Yes, yes!" Fein. Ich gehe weiter. Inzwischen wirklich erschöpft, spüre ich jede Muskelfaser. Der schwere Rucksack reißt trotz aller Polsterung an den Schultern und ich habe das Gefühl mein linker Fuß ist an der Ferse durchgelaufen. Es schmerzt heftig. Bald muss doch diese verd... Herberge erreicht sein. Erste Häuser. Jetzt kann es nicht mehr weit sein. Hier steht eine Kirche. Im inneren bilden Felsen einen natürlichen Altar. Heute früh war ich wild entschlossen hier in Ruhe zu schauen. Jetzt reicht die Kraft noch für ein schnelles Foto. Wieder draußen ziehe ich meinen Reiseführer aus der Tasche und versuche zu verstehen, wie ich am schnellsten zur Herberge komme. Irgendwie verwirrend an dieser Stelle. Völlig versunken in meinem Reiseführer erschrecke ich mich etwas als plötzlich die Blonde aus Irun neben mir steht. Sieh' an. Was für ein Zufall. "Hola", strahlt sie. "Hola, hello... hey, whats your name?" "Roxanne?", Rozenne?" Ok... no... roooosszännn. Ah. From france. Very nice. "Je ne parle pas français." "Do you know were to go? No?!" Wir drehen uns gemeinsam im Kreis und dann steht auch noch die kurzhaarige Begleiterin von ihr mit dem roten Rucksack neben uns. Liza. "Do you know were to go?" Pilgerkompetenzkomitee. Drei mal keine Ahnung. Roooosszännn fragt einen vorbei radelnden Spanier. Aha. Sie kann Spanisch. Beste Freundin ab jetzt! Offenbar hat sie trotzdem nichts verstanden. Aber das kenne ich ja schon. Auch dieser Spanier redete schnell, viel und zeigte in alle Richtungen. Wir gehen in Richtung Innenstadt. Und das hätten wir jetzt wohl auch noch selbst geschafft. Nach einigen Metern stehen wir mitten im Ort auf dem zentralen Platz. Vor uns eine Klosterkirche. Das muss die beschriebene Herberge sein.
Drinnen ist reger Betrieb. Ein Mönch stempelt uns als Pilger ab und ich will nur noch eine Dusche. Auf dem Weg dort hin kommt mir "fast running guy" ziemlich unbekleidet entgegen. Wer's kann. Ob ich mir mit ihm die Waschmaschine teilen will?! Klar. Er bezahlt. Teilen macht Freude. Beim Auskleiden fühle ich den Schmerz nun endgültig. Und beim Ausziehen der dicken Wandersocken habe ich Gewissheit. Die Ferse ist offen. Aber da eh alles wehtut ist das jetzt relativ. Frisch geduscht gehe ich noch die letzten Sonnenstrahlen außerhalb des Klosters einfangen. Auf dem Marktplatz setze ich mich auf eine Bank und rufe das erste mal zuhause bei meiner Großmutter an. Sie freut sich. Wies es mir geht. "Fantastisch, Oma. Alles ist wunderschön hier!" - "Pass auf dich auf." "Mach ich. Hab' dich lieb." Es wird schnell kalt. Wieder rein. Sarah...! Ich freue mich sie zu sehen. Krass. Das war 'n hartes stück Arbeit heut. Wir gehen zusammen noch Sandwiches essen und dann getrennt ins Bett. Gute Nacht!
Nein, nicht ganz... ich werde unsanft wach. 5 Spanier waren offenbar noch auf ein par mehr Drinks in der Stadt und versuchen jetzt mit mäßigem Erfolg in die Hochbetten zu klettern. Rumms... da liegt einer. Der Kerl ist richtig stramm. Ich schaue mir das Schauspiel im Halbdunkel amüsiert an. Scheint zu dauern. Ich will schlafen. Irgendwo hab ich Ohropax. Rein damit. Jetzt aber: Gute Nacht!